Yu Ying-shih | 1. Kapitel:
Eine Perspektive auf die moderne chinesische Kultur in Hinblick auf das Wertesystem:
Teil 4: Ansichten über das Leben und den Tod 余英時 | 第一篇:從價值系統看中國文化的現代意義 四、對生死的看法
Buchtitel: Das Wertesystem der Intellektuellen und der
chinesischen Kultur 書名:知識人與中國文化的價值
Abschließend möchte ich kurz darauf eingehen, wie in China
über das Leben und den Tod nachgedacht wird. Diese Thematik spielt in der chinesischen
Kultur, ebenso wie in jeder anderen Zivilisation, eine zentrale Rolle. Hinsichtlich
der Frage nach dem Leben und dem Tod gibt es zwar große Meinungsunterschiede –
zwischen allgemeinen Annahmen und intellektuellen Ansichten findet man jedoch
auch viele Gemeinsamkeiten.
Grundsätzlich entsprechen in China die allgemeinen Ansichten
über das Leben und den Tod dem Sprichwort: „Die Menschen, der Himmel und die
Erde sind alle eins.“ Der Glaube an
unsterbliche Seelen kam jedoch erst mit dem Buddhismus nach China. In der
Antike Chinas glaubte man stattdessen an den Dualismus der Seele, der mit den zwei
chinesischen Begriffen „Hun魂“ und „Po魄“ zum Ausdruck gebracht wird und jeweils den Himmel und die
Erde symbolisiert. Die “Hun”-Seele stammt aus dem Himmel und hat die positive
Eigenschaft „Yang陽“.
Im Gegensatz stammt die “Po”-Seele aus der Erde und hat die negative
Eigenschaft „Yin陰“.
Die “Hun”-Seele ist zuständig für die geistige Wahrnehmung und die “Po”-Seele
für den leiblichen Körper eines Menschen. Die Vereinigung beider Seelen
bedeutet Leben, die Trennung bedeutet Tod. Dieser Dualismus der Seele gilt unter
den Weltkulturen als Alleinstellungsmerkmal. Eine wichtige Eigenschaft der “Hun”- und
“Po”-Seelen ist, dass sie sich nach dem Tod trennen: die “Hun”-Seele steigt in
den Himmel auf und die “Po”-Seele sinkt hinab in die Erde. Die archäologische
Entdeckung aus der Mawangdui-Grabstätte in Changsha lieferte erst vor kurzem eindeutige
Hinweise auf diese Unterscheidung zwischen “Hun”- und “Po”-Seelen. Insbesondere
sind die Ausgrabungen der Seidenbilder und dem auf Bambus-Täfelchen
geschriebenen „Inventarbuch“ der beste Beweis (siehe auch »Die Entwicklung der
Weltanschauung über das Leben nach dem Tod in der Antike Chinas«, Yu
Ying-Shih). Aber beide Seelen kehren letztlich wieder zurück in das Qi des
Himmels und der Erde und werden zudem als nicht ewig existierende Elemente
angesehen. Der Opferritus seit der Zhou-Dynastie beinhaltet Regeln wie zum
Beispiel die sieben Tempel des himmlischen Sohnes, die fünf Tempel des
feudalistischen Kaisers und das Opferritual für die Klasse der Gelehrten-Beamten
und der gewöhnlichen Bürger, die ihnen lediglich gestattete, ihre Vorfahren zu
gedenken. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass sich die Seelen der
Vorfahren nach einer langen Zeit in Qi verwandeln und somit die Opfergaben
empfangen können. Zichan, der Minister des Zheng-Staates während der Frühlings-
und Herbstperiode, vertrat in Bezug auf die “Hun”- und “Po”-Seelen ähnliche
Theorien. Somit existierten zwar auch in
der Antike Chinas der Glaube an den göttlichen Himmel und die dämonische Hölle,
die aber noch unvollkommen waren. Am wichtigsten blieb nach wie vor die irdische
Lebenswelt des Menschen. Selbst der göttliche Himmel und die dämonische Hölle gelten
als Erweiterung der menschlichen Welt. Kurzum stehen die Welten vor und nach
dem Tod in einer sehr engen Beziehung. Nachdem der Buddhismus aus dem Osten nach
China kam, verbreiteten sich diese Vorstellungen über Himmel und Hölle noch
stärker und offensichtlicher. Der Glaube an die Reinkarnation impliziert die
Hoffnung, dass ein Mensch nach dem Tod wieder zurückkehren kann. Dies ist ein
wichtiger Schlüsselfaktor für die Tatsache, dass die chinesische Gesellschaft
den Glauben nach dem Tod leicht akzeptierten. Unter dem Einfluss der
Modernisierung ist zwar der Glaube an das Leben nach dem Tod nicht ganz
verschwunden, jedoch verliert er zweifellos allmählich an Einfluss. Deshalb widmen
wir unsere Aufmerksamkeit weniger diesen modernen Entwicklungen sondern werfen
vielmehr einen tieferen Blick darauf, was die Klasse der chinesischen
Intellektuellen über das Leben und den Tod denkt.
Ein bekanntes Sprichwort von Konfuzius lautet: „Wie kann man
den Tod verstehen, ohne das Leben verstanden zu haben? Wie kann man den
Geistern dienen, ohne den Menschen ausreichend gedient zu haben?“